Rich Man’s Ferrari
Die Ironie historischer Begebenheiten schmeckt manchmal so bitter wie eine unreife Grapefruit. Ein exzellentes Beispiel hierfür liefert die italienische Tuning- und Sportwagenmarke Siata.
Die Societá Italiana Applicazione Transformazione Automobilistiche brannte sich in das Gedächtnis von Oldtimer-Liebhabern ausgerechnet mit einem Fahrzeug ein, das die renommierte Beaulieu Encyclopaedia of Automobiles als „Parodie eines MG TD auf dem Chassis eines Fiat 850“ bezeichnet.
Die Rede ist vom Siata Spring von 1967, einem der ersten erschwinglichen Oldtimer-Nachbauten für jedermann. Dass der kleine Vierzylindermotor unter dem achtern monierten Reserverad brummte und der riesige Chromkühler mitsamt Motorhaube nur Attrappen waren, störte die meist deutschen Käufer überhaupt nicht, wenngleich sie etwas mehr als 7000 Mark für den schwachbrüstigen, 37 PS starken Retro-Roadster bezahlten.
Der Siata Spring von 1967 – auf deutsch „Frühling“ – passte hervorragend in die turbulente, blumenbunte, nostalgische Hippe-Ära der Spätsechziger, in der nur der Tabakgenuss einer Kurmark Filter echt sein musste. Die Verwandtschaft des Siata Spring zum hier vorgestellten Siata 208 S ist so entfernt wie die eines Goldhamsters mit einem Vollblut-Hengst.
Es beginnt bereits mit dem Motor. Der verbirgt sich unter einer ellenlangen Lufthutze und ringt Kennern italienischer Ingenieurskunst ein mentales Raunen ab – Fiat 8V.
Der V8-Motor mit dem ungewöhnlichen 70-Grad-Zylinderwinkel und zwei Liter Hubraum kam von 1952 bis 1954 in nur 114 Fiat-Sportcoupés zum Einsatz.
Deren Karosserien stammten zum Großteil von Spezialisten wie Stabilimenti Farina, Zagato, Michelotti und Ghia. Unter dem kuriosen Namen „Otto Vu“ (auf Deutsch: Acht Vau) gingen die im Motorsport erfolgreichen Fiat Coupés – besonders mit Karosserien von Zagato – in die Automobilgeschichte ein.
Einige der 200 produzierten Motoren lieferte Fiat an den langjährigen Partner Siata, der an der Entwicklung des Otto-Vu-Sportwagens beteiligt war.
Amateur-Rennfahrer Giorgio Ambrosini hatte bereits 1926 in Turin den mittelständischen Spezialbetrieb gegründet.
Er verhalf zunächst Fiat-Motoren zu mehr Leistung und stieg dann über kleine Rennsport-Prototypen zum Produzenten von kompakten Straßen-Cabrios und -Coupés mit Fiat-Technik auf.
Dazu zählte auch ein dreisitziger Mittelmotor-Flitzer mit kleinem DOHC-Vierzylinder und Einzelradaufhängung rundum, der 1948 als „Bersaglieri“ für Aufsehen sorgte.
Nach dem Krieg folgte dem kleinen Roadster Siata Amica mit Topolino-Technik die Daina-Baureihe.
Die Technik von Cabriolet und Coupé stammten vom neuen Fiat 1400, dessen Motorleistung hatten Siata-Tüftler von 44 auf 65 PS angehoben.
Das sportliche Spitzenmodell bildete 1952 der 208 S mit Fiat-Achtzylinder und von Siata entwickeltem Rohrahmen-Chassis. In seiner Serienversion leistete der Motor 110 PS bei 6000/min und war mit den 930 Kilogramm des Roadsters alles andere als überfordert. Ein Leistungsgewicht von 8,45 Kilogramm pro PS weist den kompakten Siata als echten Sportwagen aus.
Zum Vergleich: Ein zeitgenössischer Mercedes 180 brachte es mit seinen 52 PS und 1,2 Tonnen auf etwas mehr als 22 satte Kilogramm pro PS.
Doch nicht nur diese imponierenden Leistungsdaten, sondern auch die bildhübsche und damals hochmoderne Karosserie laden zu einer Probefahrt ein.
Die aggressiv gestaltete Wagenfront mit in den Kotflügeln integrierten Scheinwerfern und großem Kühlergrill erinnert durch dessen Gitterstruktur stark an die zeitgleich entstandenen Ferrari 250 Coupé mit Karosserien von Vignale und Pinin Farina.
Völlig neu ist hingegen die Form des Hecks mit den weit nach hinten gezogenen, schräg abgeschnittenen Kotflügeln, die dem Wagen im Stand eine gewisse Tempo-Dynamik verleihen. In England herrschte dagegen noch die Vorkriegsmode: Den ein Jahr später vorgestellten Austin Healey 100 kennzeichnen veraltete hintere Kotflügelverläufe, die zusammen mit dem Wagenheck den Radrundungen folgen.
Das moderne Siata-Design mit den dezenten, schräg geschnittenen Heckflossen sollte für die nächsten 15 Jahre stilbildend werden. Es findet sich an nahezu jedem italienischen Cabrio oder Coupé der 50er und 60er Jahre von Fiat bis Ferrari. Die Schöpfer dieser Maßstäbe setzenden Karosserie sind bei der Karosserie-Firma Rocco Motto in Turin zu suchen.
Die Design-Urheberschaft des 208 S ist jedoch bis heute nicht restlos geklärt.
In Frage kommen Giovanni Michelotti (Vignale) oder Franco Scaglione, der damals für Bertone arbeitete und auch das ebenso schlichte wie elegante Stufenheck-Coupé 208 S Gran Turismo entwarf.
Rocco Motto, dessen Firmenemblem an unserem Fotofahrzeug haftet, könnte als Subunternehmer nur im Auftrag der bekannten Karosseriebau-Größen gearbeitet, aber auch tatsächlich die Karosserie entworfen haben.
Doch wollen wir endlich los.
Ein versenkter Hebelgriff dient zum Öffnen der kleinen, weit nach unten reichenden Tür, sodass das Reinschlüpfen in den Roadster-Turnschuh keine große Mühe bereitet. Der Fahrer hält ein etwas martialisches Vierspeichen-Holzlenkrad in den Händen, während die Füße auf den eng positionierten Pedalen ein kleines Probespiel absolvieren.
Sitzposition und auch der Sitz erweisen sich trotz – oder wegen – der einfachen Konstruktion als sehr bequem.
Verdeck und Steckscheiben blieben in der Garage, weshalb der linke Arm lässig auf der Türoberkante liegen kann.
Jetzt noch kurz die Funktionen der sechs Rundinsturmente checken, die auf einem mit schwarzem Schrumpflack versehenen Blech positioniert sind. Ein Halda-Tripmaster, ein moderner Feuerlöscher sowie eine Schwanenhals-Kartenleselampe zeugen vom permanenten Rallye-Einsatz des Ein-Millionen-Dollar-Babys und von dem Sportcharakter der exklusiven V8-Motoren.
Die Maschiene startet sofort beim ersten Dreh des Zündschlüssels. Wir hören ein gut gedämpftes Röhren, das an einen Alfa-Romeo-Vierzylinder erinnert, und spüren leichte, verheißungsvolle Vibrationen am hölzernen Lenkradkranz und am ungewöhnlich kurzen Schalthebel mit dickem, rundem Knauf.
Beifahrer und Fiat 8V-Spezialist Horst Koch klärt uns auf: „Das Fünfganggetriebe stammt vom Fiat 131 Abarth. Es ist sehr robust, lässt sich leicht schalten und senkt im Fünften die Drehzahl.“ Für den Besitzer des bei Oldtimer-Rallyes sportlich gefahrenen Siata seien die Vorteile des modernen Getriebes wichtiger als absolute Authentizität. Und selbstverständlich sei die originale Viergang-Schaltbox nicht auf dem Schrottplatz gelandet.
Tatsächlich erhöht das kurz und knackig zu schaltende Getriebe den Fahrgenuss ganz erheblich. Bereits mit Drehzahlen knapp oberhalb von 1500 Touren zieht der Siata in den Gängen eins bis vier mühelos aus dem Faulenzer-Keller. Rasch gewöhnt man sich dank direkter Lenkung und ordentlicher Bremsen an den wendigen Roadster, der sich mehr und mehr in ein Körperteil des Fahrers verwandelt: Er fühlt sich als moderner Zentaur mit vier Rädern, zumal die Siata-Karosserie fast ausschließlich die Technik und nur spärlich den Insassen bedeckt.
Wer zügig über Land unterwegs sein will, der schaltet zwischen 3000 und 4000 Touren; und wer den schwarzen Hengst im kleinen Siata wecken möchte, darf auch mal bis 7000 drehen. Dann erklingt ein helles Ferrari-Trompeten aus dem Motorrad und unter dem Auto hervor. Schmale Landstraßen verwandeln sich zu einer rasanten Achterbahn, die der Siata auf seinen 165er-Reifchen wie auf Schienen durchpfeift. Dabei spielt die Qualität des Straßenbelags keine große Rolle. Dank vier einzelnen aufgehängten Rädern und eines nicht zu straff abgestimmten Fahrwerks verblüfft der Siata mit seiner erstaunlich hohen Bodenhaftung.
So erging es auch dem Redakteur vom US-Magazin Road and Track im November 1953, als dieser sich in einem Siata 208 S von Ernie McAfee über die Teststrecke chauffieren ließ. Er brachte anschließen zu Papier: „Wir durchfuhren schnelle Kurven im absolut unmöglichen Tempo und rechneten damit, dass der Wagen von der Straße abkam oder in einen Dreher kreiselte. Doch der Siata Zug durch ohne jedes Anzeichen von Rutschen oder Reifenpfeifen.“
Ernie McAfee war der nordamerikanische Generalimporteur für Siata. Die meisten der insgesamt 35 gebauten 208-Spider gingen in die USA, wo der kleine Italiener unter Sportfahrern einen exzellenten Ruf genoss. Er kam bei vielen Rennen des SCCA (Sports Car Club of America) zum Einsatz und erzielte 1954 in Sebring einen beachtlichen siebten Platz im Gesamtklassement und einen zweiten Platz in seiner Klasse.
Die Leistung der Motoren stieg dabei mit einer schärferen Nockenwelle und andere Vergaser-Bestückung bis auf 140 PS.
Entsprechend hoch lag die Höchstgeschwindigkeit der kleinen Flitzer bei deutlich über 200 km/h.
Auch Schauspieler und Rennfahrer Steve McQueen besaß als einer seiner ersten Sportwagen einen Siata 208 S (Fahrgestellnummer BS 523), den er später an den Mediziner Dr. Bruce Sand verkaufte. McQueen, so berichtet Sand, habe das Siata-Namensschild am Wagenbug durch ein Ferrari-Wappen ersetzt und den kompakten Roadster „little Ferrari“ genannt.
Dieser ursprünglich im Farbton Gunmetal Grey lackierte, 1953 ausgelieferte Wagen steht derzeit in Kalifornien zum Verkauf. Peniel aufgebaut wie ein aktueller VW Phaeton als Schaustück für internationale Schönheitswettbewerbe sucht der inzwischen rote Siata 208 für exakt 1.295.000 Dollar einen Käufer.
Mit diesem Preis übertrifft der Siata – dank McQueen-Bonus – sogar einen beim gleichen Händler angebotenen Ferrari 340 America Spider Vignale von 1951 um 45.000 Dollar. Nicht schlecht für einen kleinen, fast unbekannten Sportwagen, der im Neuzustand 5.300 Sollar kostete – was übrigens auch nicht fand billig war und locker for einen Cadillac Series 62 Konvertible gereicht hätte.
Ob die Besitzer eines Siata Spring auf einen ähnlichen Preis-Frühling hoffen dürfen, ist jedoch zu bezweifeln.