Raue Schale – Neuer Kern
Aus der Ferne sieht dieser Jaguar XK 140 SE Open Two Seater (OTS) von 1955 eigentlich ganz manierlich aus. Na ja, das blasse Babywäsche-Blau ist natürlich nicht gerade ein Renner, aber immerhin glänzt der Lack sanft und seidig im Sonnenlicht. Auch die Chromteile spiegeln sich im Licht, blitzen sternförmig auf und heben sich deutlich vom Graublau des Lacks ab. Jetzt kommt der Wagen näher, hält vor uns an und ermöglicht einen Blick in sein großzügig ausgeschnittenes Roadster-Cockpit.
Oh man, wie sieht das denn hier aus! Das Leder der Cockpit-Umrandung und des Schalthebel-Säckchens ist so spröde und vertrocknet wie ein 100 Jahre alter, auf dem Speicher gefundener Wanderschuh. Und dann das Instrumentenbrett: kein Holz, kein Leder – nur ausgeblichene Farbe mit Kratzern bis aufs nackte Blech. Zusammen mit dem matt-grauen, von Handschweiß-Rost gezeichneten Lenkrad erinnert das Interieur dieses Jaguars eher an einen offenen Land Rover 88, der seit 1955 einer afrikanischen Missions-Station gehörte. Der misstrauisch gewordene Blick wandert jetzt über die Karosserie und entdeckt dort ebenfalls Patina satt: Rostpickel auf fast allen Chromteilen, Lackabplatzer mit Rostansätzen an Griffen und an der Tankklappe, kleinere Karambolage-Spuren an den Kotflügeln sowie als Krönung großflächige Dellen und Unebenheiten an den Karosserieflanken, deren Beseitigung mit etwa einem halben Zentner Spachtelmasse gelingen könnte.
Trotzdem sitzt der Fahrer des XK 140 gelassen und sogar mit einem gewissen Stolz in dem umrestaurierten, seit 57 Jahre völlig naturbelassenen Jaguar. Dann droht er mit einer weiteren Demonstration des allgemeinen Verschleißes: „Und jetzt fahren wir noch auf die Hebebühne.“ Der begeisterte XK-Lenker ist Horst Koch, Klassik-Händler in Kirchhausen bei Heilbronn. Koch hatte den Roadster in sein Verkaufssortiment aufgenommen, das immer einige außergewöhnliche Oldtimer-Exemplare bereit hält. Doch was sollte uns bei diesem Jaguar auf der Hebebühne anderes erwarten als verölte Aggregate, dreckgetarnte Benzinleitungen, rissige Gummis und braun verfärbte Chassis-Träger, die von einem Mix aus jahrzehntealtem Straßenschmutz und Rost gezeichnet sind.
Langsam hebt sich der Jaguar vom Werkstattboden in die Höhe, bis wir die Köpfe unter das Chassis stecken und nach oben blicken können. Die Überraschung ist gelungen und spiegelt sich auf Horst Kochs zufriedenen lächelndem Gesicht wider: Unten ist an dem XK 140 alles neu und blitzblank sauber. Das frisch in Schwarz lackierte Fahrgestell, die silbrig-matt glänzenden Drehstäbe der Vorderradaufhängung, die Edelstahl-Auspuffanlage, Benzinleitungen, Bodenzüge und vieles mehr. Beim näheren Hinsehen erkennt man auch, dass überall neue Schrauben und Muttern zum Einsatz kamen. Der Roadster sieht von unten fast genau so aus, als ob er gerade die Werkshalle in Coventry verlassen hätte. Ein modernen Fünfganggetriebe und Gasdruckstoßdämpfer unterscheiden jedoch dieses XK 140 von seinen Serienbrüdern.
XK 140 aus HOLLYWOOD
Koch klärt auf und berichtet: „Hier hat sich ein Jaguar-Spezialist ein Denkmal gesetzt. Es ist eine klassische, hochwertige Frame Off-Restaurierung, bei der jedoch die abgenommene Karosserie sowie das Interieur völlig unberührt blieben.“ Es lägen Rechnungen über 60 000 Euro vor, die in die Technik einschließlich eines generalüberholten Motors investiert wurden. Den Wagen im dezenten Pacific Blue lieferte einst Jaguar Händler Homburg in Los Angeles an Carl Neil Miller in Hollywood aus. Der Roadster kam Ende der 80er Jahre nach Holland, wo er lange unbenutzt herumstand. Schließlich entdeckte ihn ein Jaguar-Spezialist, der ihn für sich innerhalb von fünf Jahren nach den eigenen hohen Ansprüchen restaurierte. Allerdings nur das Chassis, weil die völlig unpräparierte und nach 57 Jahren noch recht gut erhaltene Karosserie in ihrem authentischen Jetzt-Zustand belassen bleiben sollte.
Für den Jaguar-Fan und Oldtimer-Händler Koch bringt diese eigenartige Kombination nur Vorteile: „Dank der praktisch neuen und zum Teil modernisierten Technik ist der Roadster absolut zuverlässig.“ Zudem wäre es wirklich schade gewesen, die in ihrer Substanz noch sehr gut erhaltene, völlig authentische Karosserie ebenfalls in den Auslieferungszustand zurückzuversetzen. „Dadurch hätte man den Charakter und den erhaltenswerten Zustand der Karosserie zerstört.“, sagt Koch. Außerdem müsse der neue Besitzer – der Wagen ist bereits verkauft – nicht immer darüber in Sorge sein, dass sein neu lackiertes Prachtstück durch Fingerabdrücke, Rangierschrammen oder gar Neidkratzer verunziert wird: „Die würden praktisch gar nicht auffallen. Und Neid erzeugt der Zustand der Karosserie allenfalls nur bei wenigen, echten Kennern.“
Derzeit müsste sich der runderneuerte XK 140 auf dem Rückweg von Sizilien befinden, weil der neue Besitzer gleich zu einer großen Italien-Rundfahrt aufbrach. Wir hatten das Glück, den außergewöhnlichen Jaguar noch vorher während einer kleinen Ausfahrt näher kennen zu lernen und konnten uns so von dessen Qualität überzeugen. Im Gegensatz zum Vorgänger XK 120 mit nahezu identischer Karosserie sitzt man im XK 140 deutlich entspannter: weniger aufrecht und mit größerem Abstand zum immer noch üppig dimensionierten Lenkrad. Die Ursache liegt im um 7,5 Zentimeter nach vorn versetzten Motor und einer modifizierten Lenkung mitsamt Lenksäule, wodurch ach die Spritzwand und der Instrumententräger vom Fahrer wegrücken. Geblieben ist die niedrige Sitzposition auf einem relativ hoch angeordneten Fahrzeugboden. Die flach ausgestreckt Beine treffen auf zwei schalte Kupplungs- und Bremspedale, die sich im Dunklen des Fußraums den Muskeln entgegenstemmen. Die Kupplung benötigt einen gewissen Kraftaufwand und packt so unerbittlich zu wie ein Alligator-Gebiss. Trotz des geschwiegen Großkolben-Sechszylinders geraten deswegen die ersten beiden Anfahrversuche zu einer peinlichen Hoppes-Partie. Doch dann klappt es mit der feinfühligen Dosierung der Kupplung, und wir genießen den nur dezent röhrenden Doppelnockenwellen-Motor bei jedem Tempo in vollen Zügen.
Mittschwimmen im städtischen Vorort-Verkehr erledigt der XK 140 im zweiten und dritten Gang mit rund 2000/min. Dann stehen bereits 150 von maximal 290 Newtonmeter Drehmoment zur Verfügung. Kreisverkehre nutzten wir dazu, um uns an die – mit heutigen Maßstäben gemessenen – etwas ungenaue Lenkung zu gewöhnen. Das moderne Fünfganggetriebe agiert dagegen durch und knackig. Schön, dass die Bediengrafik des originalen Schalthebels nur vier Vorwärtsgange anzeigt und den fünften verschweigt. Über Land unterwegs und mit genügend Lenk- und Bremserfahrung ausgestattet, lassen wir den über 210 PS des Jaguar-Roadsters jetzt freien Lauf. Bis zu seinem Drehzahllimit von 5750/min dreht der Sechszylinder ab 2500/min gierig nach oben und erhöht bis zum Gangwechsel massiv den Druck in die Schalensitze. Die Beschleunigung von null auf 100 km/h in 8,5 Sekunden ist noch heute ein sehr guter Wert, den ein 300 SL Roadster (ab 1957) nicht ganz schaffte.
Nicht schlecht für eine – Pardon – alte, ausgebrannte Katze. Aber wir kennen ja ihr Geheimnis und wundern uns nicht.
Text: Franz-Peter Hudek, Bild: Achim Hartmann, MotorKlassik Ausgabe 12/2012 – Seite 44-49