Fahrbericht Cisitalia 202 SMM Nuvolari Spider
Heute ein Nuvolari
Einmal im Leben wie Nuvolari unterwegs sein. Schalten wie er, lenken wie er, Bremsen und Gas geben wie er. Dieser kleine, gerade mal hüfthohe Sportwagen mit den sensationell geformten Heckflossen macht es möglich. In so einem Wagen hat der damals bereits 55-jährige Jahrhundert-Rennfahrer Fazio Nuvolari (siehe Bild weiter unten) 1947 die Mille Miglia bestritten und beinahe gewonnen. Es war die erste Mille Biglia nach dem Krieg. Viele Straßen und Brücken waren noch zerstört, sodass man Umwege fahren musste. Statt 1000 kamen daher auf der traditionellen Route Brescia-Rom-Brescia 1139 Meilen zusammen – 1823 Kilometer. Dennoch gingen 155 Autos auf die Non-stop-Vollgas-Hatz. Neben einigen Vorkriegs-Alfa, die ohne Kompressor starten mussten, zählten auch die leichtgewichtigen Fiat-Coupé 508 C M.M. mit 1,1-Liter-Motoren zu den Anwärtern auf den Gesamtsieg. Und fünf Cisitalia, Coupés und Spider, mit stark überarbeiteten, 65 bis 70 PS starken Fiat-1100er-Motoren. Für das Consorzio Industrielle Sportive Italia, kurz Cisitalia und dessen vermögenden Initiator Piero Cusio ging es bei diesem Rennen um alles oder nichts: Die 1945 in Turin gegründete Sportwagenfirma präsentierte auf der Mille Biglia ihre neue 202-Modellreihe. Und in einem der offenen Spider war Fazio Nuvolari unterwegs, der bereits von einem durch die damals sehr giftigen Rennwagen-Auspuffabgase verursachten Asthma-Leiden gezeichnet war.
Vor dem Start hat er wohl ebenso wie ich die kleine, rechteckig ausgeschnittene Tür am innenliegenden Schloss geöffnet und ist über den hohen Schneller geklettert, um dann hinter dem großen Lenkrad auf die Sitzbank mit der muschelförmigen Lehne zu rutschen. Dem hohen Seitenschweller verdankt das gerade mal 660 Kilogramm schwere Rohrrahmen-Fliegengewicht seine enorme Stabilität. Die Sitzposition im Cisitalia 202 Spider Mille Miglia (SMM) ist zumindest für einen kräftig gebauten Ein-Meter-Achtzig-Mann gewöhnungsbedürftig. Becken und Arme genießen zwar viel Bewegungsfreiheit, doch das niedrige Sitzpolster, eine Stele, exakt im 90-Grad-Winkel montierte Rückenlehne und ein knapp bemessener Fußraum mit entsprechend nah herangerückten Pedalen erzwingen eine etwas angespannte Haltung . wie ein Erwachsener, der in einem Kinderkarusellaüto fährt. Hinzu kommt ein ellenlanger, dreifach gekröpfter Schalthebel, dessen Aktionsradius fast einen halben Meter beträgt. Das Instrumentenblech erhielt deshalb eine bogenförmige Aussparung.
Der von zwei Weber-Vergasern beatmete Fiat-Motor springt spontan an und produziert im Standgas ein aufmunterndes Röhren, das an einen braven MGA erinnert. Anfahren macht mit der ein dosierbaren Kupplung und dem drehmomentstarken Stoßstangenmotor keine Probleme. Die vier Vorwärtsgänge und den Rückwärtsgang muss ich jedoch mit dem weit ausholenden Schalthebel regelrecht einfangen, um sie dann extrem zartfühlend einrasten zu lassen. Mindestens ebenso viel Feingefühl fordert die erfreulich leichtgängige, aber mit viel Spiel arbeitende Lenkung auf den ersten Kilometern der Testfahrt.
Fazio Nuvolari, dessen etwas 1,65 Meter große Statur dem aktuellen Formel 1-Piloten Felipe Massa gleicht, hatte es im Cisitalia natürlich etwas bequemer. Und der beengte Fußraum half ihm vielleicht dabei, das Gaspedal ordentlich durchzudrücken, um sich gegen die starke Konkurrenz zu wehren. Nuvolari kam als Erster in Rom an, mit sieben Minuten Vorsprung auf das Gegner-Team Emilio Romano und Clemente Biondetti, die in einem 140 PS leistenden Alfa Romeo 8C 2900 Touring unterwegs waren. Der Vorkriegs-Alfa mit Achtzylindermotor musste laut Reglement ohne Kompressor an den Start gehen, war aber trotzdem doppelt so stark wie Nuvolaris Cisitalia – aber auch mindestens doppelt so schwer.
Nuvolari und Mechaniker Francesco Arena konnten in ihrem 170 km/h schnellen Flitzer den Vorsprung vor Romano/Biondetti bis Bologna halten. Auch auf den Autobahn-Abschnitten durch die Po-Ebene blieb Nuvolari vorn, bis plötzlich kräftiger Regen und Sturm einsetzte, der den kleinen Spider mit seiner völlig durchnässten Besatzung beinahe von der Straße riss. Zu allem Überfluss streikte rund 300 Kilometer vor dem Ziel der feuchte Zündverteiler. Das Team schuftete im Regen 15 lange Minuten, bis endlich der kleine Vierzylinder wieder losprustete. Aufgrund dieses Zeitverlustes war das im mondänen Achtzylinder-Coupé reisende Alfa-Team schneller im Ziel. Nuvolari/Carena wurden Zweite, was damals als Sensation gewertet wurde und Cisitalia dazu bewogen hat, das Modell 202 SMM zusätzlich „Nuvolari“ zu nenne.
Das der kleine offene Sportwagen diese ehrenvolle Bezeichnung verdient, steht außer Frage, denn seine flache strömungsgünstig geformte Karosserie im noch jungen Ponton-Look war ihrer Zeit weit voraus. DAs Design stammte unverkennbar von dem Flugzeug-Ingenieur Giovanni Savonuzzi, der neun Jahre später für Ghia die Supersonisch-Karosserien im moderaten Düsenjäger-Stil schuf. Der Cisitalia Spider von 1947 und ein ähnlich konzipiertes Coupé sind damit die ersten Automobile mit doppelten, nach oben Pilz zulaufenden, auf den hinteren Kotflügeln platzierten Heckflossen.
Und jetzt macht das Fahren in dem flachen Flitzer, wenn man die Zügel der Lenkung beim Geradeausfahren nicht zu stramm hält, sogar richtig Spaß. Der Kleien Fiat-Motor zieht kräftig durch; ab 2500/min legt der Stoßstangen-Vierzylinder bis fast 6000/min tüchtig los und signalisiert mit seinem fröhlichen Trompetenklang, dass er keinen Stress hat. Ich genieße das sichere Fahrgefühl im flach gebauten Sportwagen, seine nicht zu hart gefederte Hinterachse und die herrlich ungefiltert arbeitende Technik: sonores Vierzylinder-Brummen, leichte Motorvibrationen am Lenkrad, feine Benzindünste in der Nase und wohlige Motorwärme aus dem Fußraum, obwohl der Cisitalia eigentlich gar keine Heizung hat.
Und von innen heizt das große Gefühl, einmal im Leben wie Nuvolari unterwegs zu sein, dass ich jetzt das Gleiche wie er erlebt und wie vor 63 Jahren den Fahrtwind hinter der kleinen Windschutzscheibe an den Kopf und Händen spüre. Kein Buch, kein Foto, kein Film kann da mithalten.
Tazio Nuvolari
Der 1892 in Castel d‘ Ario (Provinz Mantua) geborene Motorrad- und Automobilrennfahrer zählt zu den größten Rennsport-Helden des 20. Jahrhunderts. In den Rennwagen wechselte Nuvolari erstmals im Jahr 1924. Nach der Gründung eines privaten Bugatti-Teams mit seinem späteren Rivalen Achille Varzi fuhr der Matuaner für Alfa Romeo und dominierte 1932 die Grand-Prix-Saison. Als Ersatz für den tödlich verunglückten Bernd Rosenmeyer wechselte Nuvolari 1938 zur Auto Union, wo er seine Erfolge fortsetzte. Auch nach dem Krieg begeisterte der Rennfahrer mit Kampfgeist und hoher Grundschnelligkeit. Nuvolari starb am 11. August 1953. Der Trauerzug durch Mantua war mehr als 1,5 Kilometer lang.
Text: Franz-Peter Hudek
Fotos: Dino Eisele